Am Tisch des Feuerfischs

Leseprobe aus »Die Wächter der Meere«:
Am Tisch des Feuerfischs
 
Im Roten Meer, nahe dem Suezkanal
 
Hanna kannte kein Zuhause außer die Carina Borea. Jedenfalls hatte sie sich in der Hütte auf den Kapverden nie zuhause gefühlt, bevor man sie an Bord geholt hatte.
Hier hatte sie den Wind in den Haaren. Hoch über dem Meer zu gleiten, oder unter ihm hindurchzusegeln, davon träumten viele Menschen. Für die Besatzung des Geisterschiffs Carina Borea war es Alltag.
Der Weg über die Wolken wurde nicht der Aussicht wegen genommen. Es war einfach der sicherste Weg. Sie glitten über die östliche Sahara dahin. Viele Tume der Carina Borea fühlten sich in der Nähe der kargen Landschaften unwohl. Die Aura des Schiffs konnte sie nicht völlig vor der Dhaifu1 der Meeresgeister abschirmen. Eine Dhayfu, die den beneidenswerten Staubfüßen erspart blieb.
Dann erreichten sie die Küste am Golf von Suez, wo der von Menschenhand geschaffene Suezkanal ins Rote Meer mündete. Eine bedrohliche Schwingung lag in der Luft.
»Du liebe Zeit«, sagte ein alter Seemann mit krausem Haar, während er ein Tau verknotete. »Sawan weiß, dass wir da sind.«
»Davon gehen wir aus, Henk«, meinte Hanna. »Farol hat eine Nachricht vorausgeschickt. Sawan gab keine Antwort, wie üblich.«
Henk kniff ein Auge zu und hob die Braue des anderen. »Was bedeutet, dass wir nicht erwünscht sind.«
Hanna nickte grimmig. »So ist es. Wie üblich.«
»Ich verstehe nicht, was Farol bei Sawan erreichen will«, sagte Henk frei heraus. »Der Mann ist genauso schlimm wie der Abschaum, der sich in seiner Domäne herumtreibt. Überall wimmelt es von Piraten. Da wird er uns wohl kaum bei unseren Problemen helfen.«
»Ich verstehe es auch nicht«, gab Hanna zu verstehen. »Aber Farol ist unser Kapitän. Seine Anweisungen müssen wir befolgen.«
Kerang, der auf dem Aussichtsdeck stand, brüllte derweil Befehle zur Landung. Hanna scheuchte Henk mit einer Handbewegung davon, damit der Erste Maat nicht wieder behauptete, sie würde die Mannschaft von der Arbeit abhalten.
Kaum hatte die Carina Borea im Wasser aufgesetzt, sprühte backbord eine gigantische Gischtfontäne aus dem Roten Meer. Die Red Crane platzte förmlich daraus hervor. Sie sprang mehrere Meter hoch, platschte zurück ins Wasser und begrüßte ihr Schwesterschiff mit einer Breitseite Spritzwasser.
Die Red Crane war ähnlich gebaut wie die Carina Borea, nur sahen der Rumpf und die Aufbauten faul und marode aus. Überall hatten sich Seepocken an das Schiff geheftet. Ähnlich unsympathisch sah die Crew an Deck aus.
Die Carina Borea roch nach Meer, die Red Crane stank danach.
»Wie üblich hat sich nichts verändert«, murmelte Hanna.
Die Seeleute an Bord der Horn machten unflätige Gesten, drehten aber bei und schoben eine Planke herüber. An deren Ende wartete ein hagerer, spindeldürrer Mann mit einer schwarzen Stachelfrisur. Die Sonnenbrille machte das Bild von einem Punk aus einem Endzeitfilm komplett.
Kapitän Farol trat ihm entgegen. »Erster Maat Mudayo Urkin?«
»Der war ich schon beim letzten Mal und ich bin es immer noch«, knurrte Urkin.
Farol ignorierte die Unhöflichkeit und sagte: »Ich bin hier, um mit Kapitän Sawan zu sprechen.«
»Wir haben ein Jasurat, Alter«, schimpfte der Maat der Horn. »Hätte uns ne Menge Ärger erspart.«
»In der Angelegenheit möchte ich lieber persönlich mit Sawan sprechen.«
»Hättet nicht kommen dürfen. Er ist ganz schön stinkig wegen euch.« Urkin winkte ihn zu sich. »Du kannst es gleich selbst erleben, dann kriegen wir nicht so viel ab.«
 
Kapitän Sawan war ein Ekelpaket. Anders konnte man den untersetzten Maghreb-Araber mit schwarzem Vollbart und verblasstem Fes nicht beschreiben. Er saß an seinem Schreibtisch, der eher einem Ein-Personen-Bankett gleichkam und schlug seine Zähne in eine Lammkeule.
Als Urkin an der offenen Tür anklopfte, sah der Kapitän der Red Crane mit feurigen Augen zu seinen Gästen auf. Die strähnigen Haare unter seinem Fes stellten sich drohend auf. Das Gift des Feuerfisches glänzte in den Fasern.
Farol verneigte sich respektvoll und sagte: »Friede sei mit dir, Ilja Sawan von der Red Crane.«
»Erspare mir die Formalitäten-Gülle«, knurrte Sawan mit vollem Mund, schluckte den letzten Bissen runter und wischte sich den Mund ab. »Ich habe keine Lust, mir dein Gejammer anzuhören. Aber die Geister der Ahnen steigen mir aufs Dach wenn ich einen Geisterkapitän nicht mit allen Ehren und Bla-Bla-Bla empfange.«
Hanna sah sich unwillkürlich in den heruntergekommenen, muffigen Kajüte um. »Das nennt Ihr mit allen Ehren«, rutschte es ihr heraus. »Wirklich jetzt…«
»Zweiter Maat!«, mischte sich Kerang mal wieder ein. »Was fällt dir ein! Verhalte dich respektvoll in Gegenwart …«
Beinahe lautlos brach Sawan eines seiner Haare ab, zog es zwischen den Lippen straff und schleuderte es wie einen Wurfpfeil auf Kerang.
»Argh!«, stöhnte Kerang. Er knickte auf dem getroffenen Bein ein. Dunkle, violette Äderchen zogen sich über seine Haut.
»Erster Maat!«, entfuhr es Hanna. »Das ist Gift! Sawan hat den Ersten Maat vergiftet!«
Farol zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Mach dir keine Sorgen, Schnecke«, brummte Sawan. »Das Gift des Feuerfischs ist nicht tödlich. Ich habe nur sein Großmaul gestopft.«
Kerang murmelte etwas Unfreundliches. Daraufhin legte Sawan erneut eine Strähne zwischen die Finger.
»Kerang«, sagte Farol scharf. »Das habe ich nicht gehört!«
»V-Verzeiht meine Unverschämtheit«, sagte Kerang widerwillig.
Sawan setzte ein grimmiges Grinsen auf. »Für deine Ansprüche ist deine Crew ziemlich undiszipliniert geworden, Farol. Die lässt nach, alter Mann. Es wird Zeit, dass du abtrittst, meinst du nicht?«
»Ich bleibe so lange Kapitän der Carina Borea, wie es die Geister der Ahnen von mir verlangen«, sagte Captain Farol mit fester Stimme.
Mit einer Lammkeule deutete der Kapitän der Red Crane auf Hanna. »Und trotzdem hältst du dir frische Anemonen in deinem Korallenriff.«
Er schnalzte Hanna mit der Zunge zu. Deren Haare stellten sich unter ihrem Bandana-Kopftuch vor Ekel auf und begannen zu glühen.
»Hanna!«, mahnte Captain Farol. »Lass dich nicht provozieren.«
Sie entspannte sich. Das verachtende Grinsen des Feuerfisch-Tume war ihr nicht neu.
»Stell dich wieder hin, Erster Maat«, befahl Farol streng. »Wie sieht das aus?«
Mühsam kam Kerang wieder auf die Beine.
»Das ist schon besser«, grunzte Sawan. »Es kann ja nicht angehen, dass ich nur der zweitschlimmste Kapitän der Geisterflotte bin. Ich habe einen schlechten Ruf zu wahren.« Er schlug die Keule zurück auf den Teller. »Also… Womit verschwendest du heute meine Zeit, Farol?«
Farol trat entschieden an Sawan heran, stützte sich auf den Tisch und beugte sich zu ihm vor. »Ich brauche deine Zustimmung, Sawan.«
Sawan lächelte süffisant. »Wenn du alter Schwerenöter mir nicht endlich erzählst, für was ich meine Schwanzflosse hinhalten soll, werde ich gar nichts tun.«
»Auf dem Mittelmeer werden in letzter Zeit immer wieder Flüchtlingsboote überfallen und Menschen hinterrücks getötet. Der Abgrund holt sich Tag für Tag mehr Seelen. Jemand füttert ihn systematisch. Jeder Tag, an dem Lebenskraft auf dem Meer durch die Toten schwindet, ist ein Tag, an dem unsägliches Unheil an die Oberfläche zu steigen droht.«
»Auf meinem Meer sorgen Piraten für Angst und Schrecken. Ich habe meine eigenen Schwierigkeiten, die Kräfte des Abgrunds im Zaum zu halten. Jeder Kapitän der Geisterflotte hat diese Probleme. Im Roten Meer gehen Piraten um, im Mittelmeer ersaufen Flüchtlinge und überall schwimmt Müll. Das Übliche eben.«
»Der Probleme nehmen zu, seit die Claws aufgetaucht sind«, fuhr Farol unbeirrt fort.
»Terroristen gab es schon immer und sie sind überall«, brummte Sawan. »Frag mal die Kollegen vom Levante2
Dann biss er einen großen Fetzen aus seiner Lammkeule ab. Als ob er deutlich machen wollte: Nicht mein Gebiet, nicht mein Problem.
»Bald werden die Claws auch die Piraterie in deinem Revier fördern, falls sie es nicht schon tun«, machte Farol ihm klar.
»Sie sind ein Problem der Staubfüße. Die kriegen das schon in den Griff. Was kümmert dich das? Die Staubfüße kümmert es ja auch nicht, dass tonnenweise Müll in die Meeresströmungen gerät und ein Algenteppich von Casablanca bis Tortuga wuchert. Tu dir selbst einen Gefallen, und hör auf, über deine Zuständigkeiten hinaus zu denken.«
Kerang hob eine Augenbraue, als wollte er sagen: Ich habe es dir ja gesagt.
»Diese sogenannten Zuständigkeiten sind Barrieren, die Nassflossen von Staubfüßen trennt. Wir müssen den Dutchman davon überzeugen, mit den Staubfüßen zusammenzuarbeiten. Damit die Brücken, die wir bauen sollen, uns auch wieder mit unseren Brüdern vom Land versöhnen. Wir müssen zusammenarbeiten.«
Sawan schlug die Faust auf den Tisch. »Das Einzige, was ich machen muss, ist mein Essen aufwärmen, weil es über diesen Schwachsinn kalt wird! Wir und die Staubfüße sollen zusammenarbeiten? Dass ich nicht lache!« Er nickte seinem Ersten Maat zu. »Urkin, ist das zum Lachen?«
Urkin nickte hektisch. »Ja, Kapitän, das ist zum Lachen. Ha-ha-ha.«
Sawan brach in brüllendes Gelächter aus. Nach einigen peinlichen Augenblicken verstummte er und schnitt auch Urkins Lachen mit einer deutlichen Geste ab.
»Halt die Schnauze«, knurrte er seinen Ersten Maat an.
Sawans Aura begann zu pulsieren, als er seine Gäste böse anfunkelte. Unter dem gewaltigen Druck reiner Lebenskraft bekam Hanna weiche Knie.
»Was ist daran so witzig?«, fragte Farol verärgert. »Es waren dieselben Geister, die uns für ein und dieselbe Aufgabe auserwählten.«
»Du und deine altbackene Philosophie von den Brücken! Es gibt Landbrücken, und es gibt Seebrücken. Was verbinden sie? Land und Land, und Meer mit Meer. Es gibt keine Brücke, die an Land beginnt und im Meer endet, und es gibt keine Brücke, die aus dem Meer an Land ragt.«
»Sei kein Narr, Sawan«, mahnte Farol ihn. »Alles was ich brauche, ist deine Zustimmung, und niemand wird dich mehr in deinem Territorium behelligen.«
»Und alles was du bekommst, ist eine Begleitung zur Tür raus«, knurrte der Feuerfisch-Tume. »Urkin? Führe unsere Besucher zurück zu ihrem Schiff.«
 
Schweigend kehrten Farol, Hanna und Kerang auf die Carina Borea zurück. Sie sagten kein Wort zu der Crew. Farol gab ihnen mit einigen deutlichen Gesten zu verstehen, von der Red Crane abzulegen und Richtung Mittelmeer aufzubrechen. Dann bedeutete er Hanna und Kerang, ihm in die Kapitänskajüte zu folgen.
Kaum war die Tür zu, schimpfte Farol los: »Sawan ist ein einfältiger Narr! Seine Sturheit wird unser Untergang sein.«
»Da wage ich zu widersprechen«, sagte Kerang. »Es ist gegen unsere Tradition, die Staubfüße um Hilfe zu bitten. Sawan hält sich eben daran.«
»Unsere Traditionen hatten so lange Gültigkeit, wie die Probleme des Landes sich von den Problemen des Meeres unterschieden.«
»Wir dürfen nicht gegen den Willen der Kapitäne oder des Dutchman verstoßen.«
»Ich spüre, dass der Wille der Geisterflotte nicht der Wille der Geister der Ahnen ist. Wer hat diese kurzsichtigen Narren nur auf die Posten der Wächter der fünf Grenzmeere gesetzt?«
»Sie sind kein Narr, Farol«, sagte Hanna zuversichtlich.
Farol ging zum Fenster. Die Red Crane an der Meeresoberfläche wurde immer kleiner und die ersten Wolkenschleier verdeckten die Sicht.
Farols Blick verfinsterte sich. »Ihr werdet mich einen Narren nennen, wenn ihr meine Befehle gehört habt.« Er ging zur Afrikakarte an der Wand und zeigte auf einen Punkt mitten in Ostafrika. »Es mag ein Akt der Verzweiflung sein, aber ich muss den einzigen Staubfuß um Hilfe bitten, mit dem ich schon immer auf einer Wellenlänge war.«
Kerang riss vor Entsetzen die Arme in die Höhe. Seine Arme wirkten mal wieder steif wie Baukräne. »Du willst Ajabu Kobe aufsuchen? Das kann nicht dein Ernst sein!«
Hanna sah ihre Vorgesetzten fragend an. »Wer ist Ajabu Kobe?«
»Das wirst du noch früh genug erfahren.« Farol ging zur Sprechanlage und befahl: »Alle herhören! Bereitet einen weiteren Überlandflug vor. Aktiviert die Regenmaschine. Wir fliegen nach Kimibilio.«
 
1 etwa »Schwäche«
2 »Der fruchtbare Halbmond«, ein Gebiet im Nahen Osten.

(Leseprobe aus »Wächter der Meere - Kapitel 4: Am Tisch des Feuerfischs«)