Ivoire, der Kämpfer

Ivoire, der Krieger

Mali, nahe der Grenze zu Algerien, Westafrika

Die Sonne stand bereits hoch über der unerbittlichen Landschaft der Sahara, als Ivoire aufwachte. Zumindest warf der Lichtstrahl, der durch einen schmalen Riss in der Zeltdecke fiel, einen kurzen Schatten. Erschrocken warf Ivoire einen Blick auf seine schmutzige Armbanduhr, die neben seiner Bettstatt hing. Er fluchte. Es war schon elf Uhr!
Wie hatte das nur passieren können? Weder seine innere Uhr noch die allgemeine Aufbruchsstimmung hatte ihn aus dem Tiefschlaf geholt, geschweige denn einer seiner Stammesbrüder.
»Verdammte Bastarde!«, fluchte der junge Targi, während er in seine Ikerbey-Hose schlüpfte. »Das machen die doch mit Absicht!«
Natürlich hatte ihn jeder zuhause davor gewarnt, mit dem Imusay Hamid und seinen Leute an der Verfolgung der Entführer teilzunehmen. Der abgebrühte Clan-Häuptling hatte ihn nur widerwillig mitziehen lassen und ihm gedroht, Ivoire zurückzulassen, falls er die Truppe behinderte.
Fluchend schnallte der Sechzehnjährige seine Unterschenkelprothese fest. All die Ablehnung, nur wegen einer dämlichen Tretmine! Als er das Kämpfen verweigerte, hatten ihn die Claws dazu gezwungen und jetzt, wo er bereit war, gegen seine ehemaligen Peiniger vorzugehen, ließ man ihn nicht. Jeder sah in ihm einen adoptierten Krüppel, keinen Krieger. Einige Stammesangehörige sahen in ihm nicht einmal einen echten Targi.
Seine Behinderung war für Ivoire jedoch nicht zum Verhängnis geworden. Es war noch viel ärgerlicher. Er hatte verschlafen, ein Missgeschick, das jedem passieren konnte. Ein kurzer Weckruf hätte genügt, ein paar Sekunden Aufmerksamkeit. Sicher hatte Hamid die Gelegenheit ausgenutzt, seinen persönlichen Klotz am Bein loszuwerden. Sie hegten soviel Sympathie füreinander wie eine Arschbacke für einen Dornbusch.
Weiterfluchend legte Ivoire seinen Tekatkat, seinen Übermantel, an und wickelte schnellstmöglich den schwarzen Taglemust um seinen Kopf. Nach zwanzig Schritten rutschte ihm der kombinierte Turban und Gesichtsschleier vermutlich ab, aber ohne Taglemust nach draußen zu gehen, brachte nur Schande über ihn. Die Fehlerkorrektur musste warten. Hastig stolperte er ins Freie.
Er schirmte die Augen gegen die grelle Wüstensonne ab. Ivoire brauchte eine Weile, bis er sich ans Tageslicht gewöhnt hatte. Viel gab es ohnehin nicht zu sehen. Felsen, Staub und Sand prägten die trostlose Landschaft bis zum Horizont. Bis auf zwei Zelte und ein Jeep war Hamids Lager komplett verschwunden. Lediglich Spuren im Sand zeugten von dem Dutzend Zelten und ebenso vielen Fahrzeugen, die heute Nacht hier campiert hatten.
Wütend stampfte Ivoire mit dem Prothesenfuß auf. »Verdammt! Dafür trete ich dir in den Arsch, Hamid! Ich schiebe dir die Prothese so tief rein, dass sie dir im Hals stecken bleibt, das schwöre ich!«
Seine Flüche hallten an den Felsen wider. Das Echo verhallte zu einer Stille, die Ivoires Blut nur noch mehr zum Kochen brachte. Seit zwei Jahren rackerte er sich ab, die Gebräuche der Tuareg zu verinnerlichen, sich einen Platz in Hamids Stamm zu erarbeiten. Trotzdem behandelte ihn der Imusay, als hätte er Ivoire am liebsten zum Sterben in der Wüste liegen lassen.
»Du bist genauso hitzköpfig wie laut, mein Junge.«
Verdutzt schaute Ivoire zu dem anderen Zelt, aus dem gerade der alte Issouf ans Tageslicht trat. Seine grauen Augen, die wie glatt polierte Steine inmitten einer von Jahren zerklüfteten Felslandschaft lagen, zeigten eine Milde, die er bei Hamid und den meisten seiner Männer vermisste. Issouf, der einzige Stammesangehörige, der Ivoire mit Respekt behandelte.
»Warum in aller Welt lässt unser großer Anführer seinen erfahrensten Berater zurück?«, wunderte sich Ivoire. »Du bist der Letzte, von dem ich das erwartet habe. Hat er dich letzten Endes auch zum fünften Rad am Wagen erklärt?«
»Verspotte ihn nicht«, mahnte Issouf mit seiner kratzigen Stimme. »Er weiß seine Kämpfer kühlen Gemütes anzuführen, aber er verzeiht es selbst seinen besten Freunden nicht, wenn man ihn zur Weißglut treibt.«
Ivoire verschränkte die Arme, musterte sein Gegenüber. »Was soll das heißen?«
»Es soll heißen, ich stritt mit Hamid, weil er dich zurücklassen wollte. Er ging mir beinahe an die Kehle, als ich dich wecken wollte. Also habe ich ihn vor die Wahl gestellt, dich mitzunehmen oder mich ebenfalls zurückzulassen.«
Das war mal wieder typisch Issouf. Er achtete stets darauf, dass alle in Hamids Stamm einander fair behandelten. Zumindest versuchte er es.
»Eine offensichtliche Entscheidung, wie ich sehe«, sagte Ivoire mit einem matten Lächeln. »Liegt wohl am Eifer des Gefechts. Immerhin haben die Claws seine eigene Tochter entführt.«
»Das kannst du laut sagen. Er nannte mich einen senilen, ausgedienten Krieger und meinte, wenn mir so viel an deiner Gesellschaft läge, könne ich sie weiterhin pflegen. Wenigstens versprach er, uns beide auf dem Rückweg mitzunehmen.«
»Auf dem Rückweg«, schnaubte Ivoire verärgert. »Auf dem Rückweg?! Diese verdammten Claws haben fünf Mädchen aus unserem Stamm entführt. Sie sind für mich wie Schwestern, für uns alle! Außerdem kennt niemand diese Verbrecher so gut wie ich. Fünf Jahre musste ich für sie kämpfen! Dieser Idiot von Hamid gibt einen taktischen Vorteil auf, wenn er mich hierlässt!«
Issouf machte eine beschwichtigende Geste. »Verschwende deine Energie nicht mit Beschimpfungen, Junge. Ich halte es selbst für eine Torheit von Hamid, aber wir können nichts daran ändern, indem wir hier bleiben und darüber reden.«
Ivoire riss die Arme hoch. »Ja, wir können auch gleich nach hause fahren! Dort gibt’s wenigstens was Gescheites zu essen. Mehr für uns, solange die Dickköpfe unterwegs sind.«
Issouf lächelte unter seinem Schleier, als er sagte: »Warum gleich so resigniert? Warum folgen wir nicht einfach Hamid und du überzeugst ihn durch dein Handeln von deinem Nutzen?«
»Ist das dein Ernst?«
Über Monate hinweg hatte Ivoire versucht, von seinen Kompetenzen zu überzeugen. Womöglich reichte es Hamid noch nicht. Es schadete nicht, noch etwas nachzulegen.
Der alte Targi zwinkerte, etwas Schelmisches lag darin. »Was glaubst du wohl, warum ich zurückgeblieben bin? Damit du jemanden hast, der Autofahren kann.«
Ein Lächeln huschte über Ivoires Gesicht. Auf Issouf konnte man sich verlassen.
»Du weißt, dass ich mit der Prothese auch selbst fahren kann. Ich bin schon ziemlich gut darin. Hamid gibt mir ja kein Dromedar, wenn er mich auf Botengänge schickt.«
»Ich habe mehr Erfahrung als du, Jungspund.« Er zwinkerte wieder. »Also pack dein Lager zusammen, damit wir losfahren können. Der Vorsprung unseres Anführers ist schon viel zu groß, der Vorsprung unserer Feinde liegt bereits jenseits davon.«
»Dann hättest du mich früher wecken sollen«, meinte Ivoire. »Der Vorsprung der anderen könnte kürzer sein.«
Diese Tatsache kam Ivoire seltsam vor. Issouf war ein ausgezeichneter Stratege und wusste, welche Nachteile ins Hintertreffen geraten mit sich brachte.
»Ausgeschlafen bist du mir nützlicher – und jetzt beweg dich!«
Mehr brauchte Ivoire nicht zu erfahren, um ein Lächeln unter den Schleier zu bekommen. Issouf wollte lediglich nicht zugeben, dass er selbst verschlafen hatte.
Nachher würde Ivoire es dem alten Targi auf die Nase binden. Fürs Erste galt es jedoch, eine Entführerbande einzuholen. Ivoire war fest entschlossen, ein paar seiner Rechnungen mit den Claws zu begleichen.
Sie würden den Tag verfluchen, an dem sie ihn zum Kämpfer ausgebildet hatten, zur Waffe, die sich jetzt gegen sie richtete.
Issouf schubste ihn an. »Nicht träumen, Jungspund. Ich sagte, du sollst dich bewegen!«

(Aus: Wanyama - Die Wächter Afrikas, Kapitel 1: "Zurückgelassen" by Christian Rau)