Kio, der Tollkühne

Kio, der Tollkühne
 
Moshi, nördliches Tansania


Wenn Kio etwas hasste, dann frühes Aufstehen.
»…krieg dich!«
Mürrisch drehte sich Kio von einer Seite auf die andere. Es half nichts.
»Hab dich!«
Ging das schon wieder los! Was hatte er verbrochen, um mit solchen Geschwistern gestraft zu sein?
»Nein, hast du nicht!«
Lasst mich doch einmal ausschlafen, murmelten Kios Gedanken.
„Doch, hab ich!“
Wenn drei jüngere Brüder förmlich auf ihm herumturnten, war selbst ein Langschläfer wie der Vierzehnjährige zum Aufstehen gezwungen.
»Achtung, ich komme!«
Spätestens als Cheja, der jüngste, mit den Knien voran auf seinem Bauch landete, saß Kio aufrecht im Bett. Er schnappte nach Luft. Der Stoß hätte ihm beinahe die Eier pulverisiert! Warum donnerte ihm Cheja nie auf die Rippen? Warum immer haarscharf am besten Stück vorbei?
»Bole, bole!«, wimmerte der Knirps seine Entschuldigung.
»Pass doch auf, du Tollpatsch!«, stöhnte Kio und schubste seinen vierjährigen Bruder vom Bett. »Runter von mir!«
Jitu und Uriah, die am Fußende des Betts miteinander rangen, hielten inne. Sie hatten sich ineinander verknotet wie zwei besoffene Schlangen. Man konnte von einem Acht- und einem Zehnjährigen wirklich mehr Disziplin erwarten. Immerhin sahen sie heute nicht aus wie ein liebestolles Pärchen. Manchmal erweckten sie den Anschein, für später üben zu wollen.
»Aua!«, heulte Cheja und richtete den Finger auf Kio. »Du bist gemein! Gemein, gemein!«
Innerlich seufzte Kio. Ja, das war etwas zu heftig gewesen. Aber draußen auf der Straße gingen die älteren Kinder auch nicht sanfter mit den jüngeren um. Trotzdem hätte ihn sein toter Vater dafür gescholten, seine schlechte Laune an seinen Geschwistern auszulassen.
Also beschloss Kio, die Sache etwas aufzulockern: »Wenn du denkst, das war gemein, dann pass mal auf!«
Wie eine Raubkatze sprang er Cheja an, packte den Winzling und kitzelte seine Flanken. Glucksend und kreischend flehte Cheja um Erbarmen, aber Kio ließ nicht locker. Jitu und Uriah stimmten in das Gelächter mit ein. Was für Feiglinge! Sie wusste ganz genau, dass Kio es mit allen drei aufnehmen konnte, wenn sie mitmischten.
Bis die Zimmertür mit einem Quietschen aufschwang und Kio aus dem Gerangel heraus zwei zerfledderte Turnschuhe entdeckte. Cheja schlüpfte bei der Gelegenheit aus dem Griff. Sofort setzte er die Finger in den Flanken seines Bruders an. Die Rache verpuffte, da Kio nicht kitzelig war. Den Versuch, ihn dafür im Schritt zu ziehen, wehrte der Ältere mit dem Handrücken ab.
»Weg da. Spiel mit deinem eigenen.«
Cheja nahm die Aufforderung wörtlich. Stöhnend verdrängte Kio die Details.
»Man könnte meinen, in unserem Haus lebt ein Rudel Hyänen«, brummte Matthew, der älteste Bruder. Er verschränkte die muskelbepackten Arme. »Könnt ihr das nicht wenigstens einen Morgen lang lassen? Ich hab eine Nachtschicht hinter mir. Mein Schädel dröhnt wie ein Triebwerk.«
Kio verstand nicht, warum er sich beschwerte. Besser ein Brummschädel als ein Knick im Schritt.
Alle Brüder deuteten auf jeweils einen anderen, riefen im Chor: »Er hat…!«
»Ruhe. So-fort!«, bellte Matthew. So viel zum Thema Hyänen. »Nehmt euch ein Beispiel an euren Schwestern. Die sind zahm wie die…«
»…Zie-gen!«, ging ihm Uriah dazwischen.
»Määh!«, äffte Jitu das entsprechende Tier nach.
»Määh! Määh!«, schloss sich Cheja prompt an. »Muss man melken!«
»Bitte was?!«, überrumpelte es Matthew.
»Ziegen. Mädchen. Milch melken. Määh! Määh!«
Für einen Dreijährigen verstand es Cheja ausgesprochen gut, mit Wörtern umzugehen. Zumindest war er kreativ. Über die Doppeldeutigkeit war er sich wohl kaum im Klaren.
»Ich nicht«, fiel Jitu seinem Bruder ins Wort. »Uzuri beißt. Komm nicht ran.«
Matthew legte eine Hand auf die Stirn und seufzte: »Gott steh mir bei… Ein Funken mehr von euren Schwestern, ist das zuviel verlangt?«
Kio stand auf, wehrte Chejas nächsten Kitzelversuch ab und klopfte sich den Staub ab.
»Kwayera und Uzuri sind auch nur noch zu zweit«, brummte er. »Bei denen kann es keinen Massenaufstand geben.«
Kio seufzte. Was redete er da? Selbst, als die Mädchen noch zu viert gewesen waren, hatten sie keinen solchen Lärm verursacht wie ihre Brüder.
»Das ist keine Ausrede dafür, dass sie bereits angezogen am Tisch sitzen«, sagte Matthew. »Wir Männer haben einen Ruf zu verteidigen.« Er runzelte die Stirn. »Also zieht euch gefälligst was an. Ich will keine Pimmel am Tisch sehen.«
Natürlich nicht, da ihm Kwayera sonst die Ohren langzog. Ihm und allen anderen Brüdern auch.
»Heute ist Samstag, großer Bruder«, merkte Kio an. »Wir sogenannten Männer müssen nicht in die Schule. Deswegen wollte ich auch länger schlafen. Aber Cheja musste mich ja unbedingt als Sprungtuch benutzen.«
Das Nesthäkchen der Salehes begegnete dem bösen Seitenblick nur mit einem verlegenen Lächeln.
»Ich habe noch gar nicht geschlafen, kijana«, erwiderte Matthew und gähnte. »Die Marktwaren kommen schließlich nicht von selbst auf die Lastwagen.«
Diesen Anblick kannte Kio von seinem großen Bruder nur zu gut. Um dessen braune Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, die selbst auf seiner schwarzen Haut noch deutlich sichtbar waren. Er versuchte, sich die Müdigkeit nicht anmerken zu lassen, doch er nuschelte immer wieder, wenn ihm nicht gerade die Augen zufielen.
Eigentlich arbeitete Matthew als Helfer bei einem Touristenbüro und kutschierte die Ausrüstung für wagemutige Bergsteiger zum Kilimandscharo und zurück. Da er jedoch seine Geschwister mit durchbringen musste, nahm er zusätzlich zahlreiche Gelegenheitsjobs an. Kio hoffte, dass Matthew nicht endgültig umkippte, bevor er selbst Geld verdienen konnte.
»Was machen wir denn heute?«, fragte Cheja mit großen Augen.
Bei einem solchen Energiebündel wunderte es Kio nicht, dass der Knirps freiwillig nach Arbeit fragte.
»Zuerst gehen wir auf den Markt«, verkündete Matthew. »Dann helft ihr im Haushalt. Auch du, Cheja. Heute haben wir genug Zeit, und es gibt genug zu tun.«
Genug zu essen wäre mal eine Abwechslung, dachte Kio. Ich bin schon zu klein geraten, da muss ich nicht auch noch wie ein Besenstiel aussehen. Dann übersehen mich die Mädchen aus der Klasse erst recht.
Jitu zog ein langes Gesicht. »Wie langweilig! Warum müssen wir da unbedingt mit? Ich will lieber draußen spielen.«
Endlich sprach ihm mal jemand aus der Seele.
»Was er sagte«, stimmte Kio zu.
»Die Mädchen können die Sachen nicht allein schleppen. Außerdem lasse ich weder die beiden noch euch gerne unbeaufsichtigt nach draußen. Auch dich nicht, Kio.«
Kio dachte an das rostige Klappmesser, dass er in der Hosentasche versteckte. Selbst Matthew wusste nichts davon, sonst hätte er es seinem Bruder womöglich abgenommen. Kio hatte nicht vor, es einzusetzen, aber es verlieh ihm ein Gefühl von Sicherheit.
»Ich komm schon klar, kulekawela?«, sagte er mit Nachdruck.
Matthew verschränkte die Arme. »Kapiert hab ich das schon, vor allem, was du damit bezwecken willst.«
Einfach mal Luft holen. Aber diese Antwort schien zu simpel, als dass Matthew sie kapierte.
»Kio ist ein Faulpelz«, fiel ihm Jitu in den Rücken. »Das weißt du doch. Ein dicker, fauler Pelz«
»Määh! Määh!«, kam es von Cheja.
Jitu grinste. »Nicht ganz, Brüderchen, aber fast.«
Kio kämpfte gegen den Drang an, dem Frechdachs dafür eine zu scheuern. Den ganzen Tag mit der Familie, mal wieder… So langsam gab er die Hoffnung auf, wieder Luft zum Atmen zu bekommen.
Er kam nie aus diesem Loch von Moshi raus.

(Aus "Wanyama - Die Wächter Afrikas, Kapitel 13: Affenzirkus" by Christian Rau)