Trivi, die Forscherin

Trivi, die Forscherin
 
Polokwane, Provinz Limpopo, Südafrika


»Heureka! Victoria, kom hier nou! Jy moet dit sien!«
Genervt schaute Victoria van Venken von ihrem Buch in der einen Hand auf und löste die andere vom Kochlöffel. Ihr Vater verfiel immer dann ins Afrikaans, wenn er herumspann.
»Das darf doch nicht war sein«, murmelte Victoria und klappte die Lektüre zu. »Ich kann mir fast denken, was du gefunden hast, Dad.« Seufzend legte sie das Buch weg. »Du gibst ja keine Ruhe, bis du mir davon erzählt hast…«
Victoria erhob sich vom Barhocker und überprüfte kurz den Chakalaka. Der Eintopf konnte noch eine Weile köcheln, bevor er fertig war. Hoffentlich lockte das Essen ihren Vater aus dem Arbeitszimmer hervor. Andernfalls schaffte das keine Macht der Welt.
Sie korrigierte sich. Es existierte keine Macht der Welt, die ihn von der Arbeit abhielt, nicht einmal Hunger oder Müdigkeit. Er ernährte sich wohl von seinen Hirngespinsten.
»Victoria!«, ertönte Dads Stimme erneut.
»Ich komme schon!«, rief Victoria auf Englisch. Auf Afrikaans zu antworten stellte kein Problem für sie dar. Dennoch bevorzugte sie ihre zweite Muttersprache.
Sie eilte über den mit Wandteppichen, Zulu- und Massai-Sammelstücken gepflasterten Flur, in das Arbeitszimmer am fernen Ende. Das Refugium ihres Vater glich noch mehr einem Museum als die Diele. Zwischen Bücherregalen hingen bunte Holzmasken und Talismane, während Idole und Töpferwaren sich auf Brettern unter der Decke reihten. Was nicht in die Regale passte, wie etwa die vielen alten Landkarten, stapelte sich rund um den Mahagoni-Schreibtisch. Bereits beim Hereinkommen kratzten die trockene Luft und der Staub in Victorias kleiner Nase.
Dr. Johan van Venken stand am Schreibtisch, über eine lose Ansammlung Blätter und einige Steine gebeugt. Mit einer Lupe fuhr er immer wieder zwischen den Steinen – die Inschriften trugen – und den Dokumenten hin und her.
»Da bin ich, Dad«, seufzte Victoria betont gelangweilt. »Was willst du mir denn so dringend zeigen? Ich hab das Essen auf dem Herd.«
Dr. van Venken schaute zu hier herüber, ein Freudestrahlen überzog sein wettergegerbtes Gesicht. Viel Ähnlichkeit mit Victoria besaß er nicht. Er war von stattlicher Natur, mit breiten Schultern und kantigen Zügen, während Victoria eher die Zierlichkeit ihrer Mutter geerbt hatte. Dad besaß zudem dunkelbraunes Haar, das mittlerweile ein paar graue Strähnen ansetzte, ihres dagegen war goldblond und wallend, das sie bis ins Kreuz hinunter trug. Die Kurzsichtigkeit schien ihre einzige Gemeinsamkeit zu sein.
Bei dem Gedanken seufzte Victoria. Da gab es noch etwas: Sie besaß Bodenständigkeit. Bei ihrem Vater ließ dieser Charakterzug zu wünschen übrig.
»Dann lass es mich dir zeigen, damit ich deinen Chakalaka als Feier des Tages genießen kann«, drängte Dr. Venken. »Du kochst doch Chakalaka, nehme ich an?«
»Ich koche immer Chakalaka«, schnaubte Victoria und rieb sich den ersten Staub aus dem Auge. »Weil du jedes Mal, wenn ich etwas besonderes koche, nicht zu Tisch kommst. Die Burenküche dient nicht dazu, zubereitete Speisen wegzuwerfen. Herrje, sonst stünde da nicht -küche hinter den Buren.«
Allein deswegen hätte sie schon losheulen können. Mitten in Afrika verschwendete jemand Essen.
»Dein Bobotie von neulich war doch lecker«, versuchte er sich mal wieder herauszureden. »Das habe ich definitiv gegessen.«
Das erklärte, wohin es damals verschwunden war. Es ärgerte Victoria genauso.
»Dad, das war vom Vortag! Du hast es in der Mikrowelle aufgewärmt. Achtete ich nicht auf den Bestand im Kühlschrank, würdest du dir tagtäglich den Kopf über der Kloschüssel zerbrechen. Weil du pausenlos beim Kotzen wärst.“ Sie rollte mit den Augen. Das fehlte noch. „Warum, glaubst du, hat die letzte Haushälterin wohl gekündigt? Übrigens willst du seit vier Monaten eine neue Haushälterin einstellen.«
Damit hatte sie die Spitze seines Versäumniseisberges weggeklopft. Anders konnte Victoria die Zustände in diesem Haus nicht beschreiben. Ihr Dad schien blind für Haftnotizen am Kühlschrank.
»Das habe ich doch schon, Liebes«, erwiderte Dr. van Venken mit einem gewissen Stolz.
Victoria kämpfte gegen das Verlangen an, sich die Hand gegen die Stirn zu schlagen.
»Dad, das war der Gärtner!«
Einen Rand für jeden Satz, den sie so anfing, und Victoria konnte sich einen Sportwagen als erstes Auto leisten.
»Oh.«
Das gleiche Prinzip bei dieser Antwort konnte den Chauffeur bezahlen. Vielleicht sollte sie mehr Taschengeld verlangen, wenn sie schon den Haushalt selbst managte. Es grenzte an ein Wunder, dass ihre Schulnoten noch nicht unter dem ganzen Stress litten.
»Wer war dann die Frau vor einiger Zeit?«, versuchte sich Dad über ein Missverständnis herauszureden. »Da war doch eine Frau?«
Victoria ordnete ihm den Hinweis spielend zu: »Daaad! Das war Cleo, die ist so alt wie ich und bestimmt keine Putzfrau. Die habe ich dir sogar vorgestellt. Herrje, vorgestellt!«
Vermutlich hatte Dad sie nicht einmal registriert. Er stand öfter auf Durchzug. Traurigerweise musste sie ihm die Erinnerung an eine Person im Haus hoch anrechnen.
»Hast du das? Das ist irgendwie an mir vorbeigegangen.«
Bingo! Ihr Dad im Alltagsmodus.
»Wer war Cleo noch gleich?“, überlegte er. „Eine Klassenkameradin? Nachhilfe?«
Victoria fiel trotz Gewohnheit die Kinnlade runter. »Herrje, nein! Cleo ist meine Ex-Freundin. Wir waren fast fünf Monate zusammen.«
Bis Victoria von Cleos Affären während ihrer Reisen erfahren hatte. Den Schmerz unterdrückte sie nach Kräften, der Ekel darüber hielt ihre intimen Wünsche im Zaum. Zumindest solange, bis sie wieder einer Frau vertrauen konnte.
»Ihr wart zusammen?«, setzte Dads Gedächtnis aus. »Zusammen im Sinne von Paar…?«
»Dad.« Sie seufzte für etwas Theatralik und einen tiefen Atemzug. »Ich bin lesbisch. Ich hab seit zwei Jahren Beziehungen mit anderen Mädchen. Das weißt du seit fast einem Jahr.«
Zumindest in der Theorie.
»Ach, stimmt ja. Hatte ich fast vergessen.«
Die Gleichgültigkeit und Ignoranz regten Victoria auf. Warum konnte Dad nicht intolerant reagieren? Dann hätte sie wenigstens einen Grund gehabt, ihn anzuschreien. Er schien alles zu vergessen, was Beziehungen anging. Eines Tages erkannte er vermutlich nicht einmal mehr seine eigene Tochter wieder.
Ignoranz ist auch eine Form von Toleranz, dachte Victoria, um sich abzuregen.
»Nun zeig mir deinen ach so tollen Fund, bevor es richtig peinlich wird.« Sie verschränkte ungeduldig die Arme. »Ich habe Hunger, im Gegensatz zu dir. Du ernährst dich offenbar von Begeisterung.«
Dr. van Venken winkte Victoria an den Schreibtisch. Beim Näherkommen entdeckte sie die Symbole auf den Steinen, daneben eine Übersetzungstabelle. Direkt darunter lag eine Landkarte ausgebreitet, die Ostafrika zeigte. Besonders Kenia hob sie hervor, mit angekreuzten, eingekreisten oder geschwärzten Punkten. Einige Markierungen trugen Dads kryptische Kürzel, die seine Notizen genauso unübersichtlich machten wie die Geheimnisse, die er erforschte.
»Lass mich raten«, seufzte Victoria, setzte die Brille ab und zückte ihr Reinigungstuch, um zu verdeutlichen, dass genaues Hinsehen nicht lohnte. »Du hast sie gefunden?«
Dr. Venken nickte eifrig. »Ja, ich habe sie gefunden, endlich!«
Victoria schaute die verschwommenen Umrisse ihres Vaters skeptisch an. »Ein Rand für jede Wiederholung dieses Satzes, und ich könnte mir ein Haus auf Bora Bora kaufen. Dad, versteh es doch endlich! Mahali Mababu, die Stadt der Vorväter, existiert nicht! Du jagst seit Jahren einem Mythos hinterher, einer Geschichte. Mahali Mababu existiert genauso wenig wie El Dorado oder Atlantis. Das sind Hirngespinste.«
Wenigstens besaßen die letzten beiden Stätten eine gewisse Popularität. Man konnte die Geschichte jener Spinner erforschen, die nach ihnen gesucht hatten.
»Ich besitze Beweise«, blieb Dr. van Venken hartnäckig. »Ich besaß schon immer Beweise, nur sind diese Fakultätsfritzen zu einfältig, um es zu verstehen.«
Schon mal dran gedacht, die Fritzen zu verstehen?, ging es Victoria durch den Kopf. Mom hat dich sicher nicht aus Einfältigkeit verlassen. Ihr habt nie versucht, einander zu verstehen.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Die Weise, auf die Victorias Mutter davongelaufen war, schmerzte sie noch mehr als die Trennung von Cleo. Diese fiel ihrer Ex wenigstens nicht in den Rücken.
»Immer sind die anderen Schuld, was?«, erlaubte sich Victoria einen sarkastischen Kommentar. Das Scheidungsthema fuhr sie nicht auf, so sehr es ihr danach verlangte. »Ich verstehe dich auch nicht. Macht mich das einfältig, obwohl mein Zeugnis vor der Note sieben nur so strotzt? Wir können es nicht verstehen, wenn du keine Beweise für das hast, was du siehst.«
Innerlich seufzte sie. Warum debattierte sie eigentlich noch darüber? Dad ließ sich nicht davon abhalten, egal, was sie sagte. Und, um mit sich selbst ehrlich zu sein, sie würde ihn auch noch auf unzählige weitere Expeditionen ins tiefste Afrika begleiten. Solange er seine Familie damit nicht ins Armenhaus oder gar ins Grab brachte, würde sich Victoria nicht von ihm abwenden.
»Mahali Mababu existiert«, hielt Dr. Venken an seiner Überzeugung fest. »Das werde ich beweisen. Ich bin näher dran als je zuvor. Die Artefakte, die ich in Swaziland fand, machen das Puzzle fast komplett.«
Victoria zog eine Augenbraue hoch. »Wenn du eine ähnliche Beschäftigung suchst: Unsere gesamte Spielesammlung besteht aus unfertigen Puzzeln. Scheint ein Fluch hier im Haus zu sein. Immer diese Staubsauger.«
Ein verschmitztes Lächeln huschte über Victorias Gesicht. Es war nur die halbe Wahrheit. Ihren Milchzähnen war so einiges zum Opfer gefallen.
»Nur noch diese eine Expedition, das verspreche ich. Wenn ich Mahali Mababu dann nicht gefunden habe, werde ich Ägyptologe.«
Victoria setzte keine hohen Erwartungen darin.
»Das versprichst du jedes Mal. Nur der Ägyptologe ist neu. Vermutlich eine Empfehlung von Professor Turner, weil er das Gebiet für narrensicher hält.« Sie hob prüfend die Nase. »Wer finanziert dir diese Expedition eigentlich? Ich dachte, die Fakultät hätte dir für alles, was mit Mahali Mababu zu tun hat, den Geldhahn zugedreht? Wenn ich mich recht entsinne, hat dich die Förderungsabteilung der Terranova Foundation ebenfalls trocken gelegt.«
Victoria rollte mit den Augen. Wem sogar die weltbekannte Terranova-Foundation, die jährlich mehrere Millionen für humanitäre und wissenschaftliche Projekte bereitstellte, absagte, dem empfahl sich ein Berufswechsel. Vor allem, wenn man der einzige Gelehrte war, den die Foundation je trocken gesetzt hatte.
»Mein neuer Mäzen heißt John McFinnigan«, erklärte Dr. van Venken stolz. »Er hat mir die Geldmittel für die nächste Expedition bereits zur Verfügung gestellt.«
Victoria rätselte, was wohl erstaunlicher war: Der neue Geldgeber oder die Tatsache, dass sich ihr Dad dessen Namen gemerkt hatte.
 »Der alte Milliardär mit der arroganten Sippe? Ich dachte, der gehört zur Foundation?«
Dr. van Venken winkte ab. »Schon lange nicht mehr. Er war Mitbegründer von Terranova, hatte aber einige Streitigkeiten mit dem Vorstand, weswegen er vor einigen Jahren seinen Hut genommen hat. Allerdings finanziert er weiterhin Projekte aus eigener Tasche.«
»Ganz schön großzügig, auch wenn er Milliardär ist.« Victoria zwang sich zu einem Lächeln. Dass McFinnigan als senil angesehen wurde, kehrte sie unter den Teppich. »Na ja, wenn du so überzeugt bist, stehe ich hinter dir. Wo geht es dieses Mal hin?«
Dr. Venken tippte so fest auf einen Punkt der Karte, als wollte er den Tisch darunter durchbohren und erklärte stolz: »Wir reisen morgen Richtung Tansania ab, zum Fuß des Kilimandscharo-Gebirges. Ich habe bereits mit deinem Schulleiter gesprochen. Du darfst mit, wenn du ein Referat über die Serengeti hältst.«
Victoria zog die Stirn kraus. »Damit dürfte meine Klasse bald jeden Winkel Afrikas kennen…«
Sie rümpfte die Nase, ihr Vater ebenso. Der beißende Geruch von Rauch zog in Schwaden durchs Zimmer.
Jetzt war es Dr. Venken, der die Stirn in Falten legte. »Oh, angebranntes Chakalaka. Hast du wieder vergessen, den Herd herunterzudrehen, bevor du herkamst?«
Herrje, daran erinnerte sich ihr alter Herr natürlich!
»Jepp«, antwortete Victoria knapp, bevor sie aus dem Arbeitszimmer stürmte. »Verdammte Sch…!«
 
(Aus "Wanyama - Die Wächter Afrikas, Kapitel 12: Chakkalaka angebrannt" by Christian Rau)