Hanna Pelargo

Hanna, die Offizierin
 
Sie kamen zu spät.
Die Seelen der Schiffbrüchigen lösten sich von den umhertreibenden Körpern. Ihre Lebenskraft schrie in Verzweiflung, bevor sie in der Finsternis der Tiefsee verstummte.
»Zu viele«, murmelte Hanna Pelargo durch ihre Zahnlücken hindurch. Wie immer bemühte sie sich, nicht zu lispeln. »Es sind viel zu viele.«
Viele Crewmitglieder, Tume wie Hanna, hatten ihre Arbeit eingestellt und beobachteten sprachlos das grausige Schauspiel.
Die Carina Borea schwebte direkt unter der Unglücksstelle. Lebenskraft durchströmte das Gefährt und verlieh ihm die Aura eines Geisterschiffs. Vor allem aber schützte sie die Besatzung vor dem Spuk dort draußen.
Neben Hanna schnalzte jemand mit der Zunge. »Sie mussten ja unbedingt den Weg ihres Untergangs wählen.«
Kerang wankte an ihr vorbei und lehnte an die Reling. Der Erste Maat der Carina Borea war durch das Marekibisho1 seines Wanyamas gezwungen, seitwärts zu laufen. Seine Haut schimmerte krustig wie ein Panzer. Sein schmieriger Gesichtsausdruck machte ihn gleich um ein Vielfaches hässlicher.
»Sie flohen vor Krieg, Hunger und Verfolgung«, sagte Hanna wehmütig. »In Europa erhofften sie sich eine bessere Zukunft.«
»O ja«, seufzte Kerang herablassend, »das schöne Europa. Frieden, Umweltbewusstsein und Gleichberechtigung, eine verlockende Qualität an Lebenskraft. Menschen, die einen nicht gleich umbringen wollen, nur weil man so ist, wie man ist. Wen wundert es da, dass sie sich immer mehr den Zuwanderern verschließen, die Afrika den Rücken kehrten, anstatt für ihre Heimat zu kämpfen? Die sich Verbrechern anschließen, die sich nur um deren Geld, aber nicht um deren Sicherheit scheren?«
»Anstatt über die Menschen herzuziehen, deren Verzweiflung ausgenutzt wird, sollten wir lieber die zur Rechenschaft ziehen, die sie ausnutzen«, mahnte Hanna. »Es sind die Schlepper, Kerang. Außerdem kommen einige Geflohene zurück, um ihrer Heimat beizustehen.«
»Pah!«, machte Kerang. »Kaum der Rede wert. Für mich haben nur die Menschen den richtigen Mumm, die in Afrika bleiben und kämpfen.«
»Das rechtfertigt kein verlorenes Leben. Wenn der Kapitän endlich zustimmen würde, die Schleuser an der Küste aufzureiben, würde das die Leute sicher anspornen, mehr für ihre Heimat zu tun.«
Kerang ließ die rechte Hand schnappen. Ein weiterer Tick seines Wanyamas, und ein nervtötender noch dazu. »Die Küste ist das Gebiet der Land-Tume. Wir haben dort nichts zu suchen. Wenn die Staubfüße das nicht gebacken kriegen, ist das deren Problem.«
Gereizt deutete Hanna auf eine kreischende Seele, die in die Tiefe trudelte. »Aber das da ist unser Problem. Es hat nur seinen Ursprung an Land. Jetzt schaffen wir es nicht einmal mehr, die Leute vor dem Ertrinken zu retten. Du weißt genau, was der Abgrund mit den armen Seelen macht. Wir können sie nicht ignorieren, nur weil sie vom Land kommen.«
»Du bist naiv, Hanna«, meinte Kerang.
»Und doch versteht sie unsere Aufgabe besser als so manch anderer.«
Eine Aura, einer Flutwelle gleich, flammte neben ihnen auf. Für einen Moment glaubte sich Hanna schwerelos, bis ihre Sinne die Ausstrahlung ihres Kapitäns sortiert hatten.
Der Kommandant der Carina Borea war ein hochgewachsener Mann mit grauem Backenbart, gekleidet in eine hellblaue, fein gebügelte Uniform mit Epauletten auf den Schultern und einer Kapitänsmütze.
»Sie belieben zu scherzen, Kapitän«, sagte Kerang.
Farol warf ihm einen strengen Blick zu. »Sehe ich aus, als würde ich scherzen? Wir stehen vor einer Krise, die Land und Meer gleichermaßen betrifft. Einer Krise, die bereits viele Leben forderte und noch viele mehr fordern wird, wenn wir nicht sofort handeln.«
»Wir sollten die Staubfüße an ihre Pflichten erinnern«, schlug Kerang vor.
Müde massierte sich Farol den Nasenrücken.
Hanna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich bezweifle, dass der Kapitän das Problem bei den Staubfüßen sieht.«
Bevor Kerang seine übliche Kritik schmettern konnte, sagte Farol: »Da liegst du richtig, Zweiter Maat Pelargo. Es ist die Bedrohung durch die Claws. Sie sind besser organisiert und finanziert als noch vor ein paar Jahren und überziehen ganz Afrika mit Furcht und Schrecken. Sie sind sogar in der Lage, Wanyamas zu stehlen und eigene Mutanten zu erschaffen.
Ich habe die Claws im Verdacht, die Flüchtlinge ins Meer zu treiben und zu ermorden. Wir müssen den Grund dafür herausfinden, aber sie koordinieren ihre Operationen zwischen Land und Meer besser als wir. Wenn wir nicht mit den Staubfüßen zusammenarbeiten, werden wir weiterhin der Spur aus Leichen hinterhersegeln.«
Ein Raunen ging durch die Mannschaft. Hanna konnte ihre Zweifel verstehen.
»Mit Verlaub, mein Kapitän«, warf Kerang ein, »für eine Zusammenarbeit mit den Staubfüßen braucht es die Zustimmung des Dutchman oder die Mehrheit der fünf Geisterkapitäne. Das ist seit Ewigkeiten nicht mehr geschehen.«
Hanna nickte. Sie stimmte Kerang nur ungern zu, aber um die Tage der Koalitionen zwischen Land und Meer rankten sich bereits Legenden.
»El Silbador2 Valdez von der Vela Elysion und ich waren schon immer einer Meinung«, sagte Farol. »Wir brauchen also nur noch die Stimme eines Geisterkapitäns.« Er hob die Hand zum Befehl. »Nehmt Kurs aufs Rote Meer! Wir treffen uns mit Sawan von der Red Crane.«

(Leseprobe aus »Wanyama - Die Wächter der Meere / Kapitel 2: Das Leid der Vertriebenen«)